Vergangene Woche bin ich im Kurier auf ein Interview mit dem Star-Soziologen Nikolaj Schultz gestoßen. Schultz – der sich in seiner Arbeit intensiv mit den großen Fragen rund um Klima und Klasse auseinandersetzt – gibt im Interview an, dass es bei diesen Themen eine „positive Erzählung anstatt des moralistischen Zeigefingers“ braucht.

Das Interview hat mich zum Nachdenken gebracht. Während ich Schultz durchaus zustimme und unsere Arbeit bei der Grünen Wirtschaft auch von jeher darauf aufbaut, mitzugestalten und nicht bloß zu kritisieren, bin ich zum Entschluss gekommen, dass die Rolle des Moralapostels dennoch von zentraler Wichtigkeit ist und im Diskurs nicht unbesetzt bleiben darf – ob es nun eine sonderlich beliebte Rolle ist oder nicht.

Versteh‘ mich nicht falsch: Politik genauso wie Interessensvertretung muss gestalten. Es reicht nicht aus, bloß ein Aufzeigen von allem Schlechten zu bieten. Sie ist aktiv und nicht nur reaktiv.

Die Arbeit der Moralapostel dieses Landes sehe ich allerdings als die einer Kontrollinstanz. Denn: Seit ein paar Wochen fühlt man beim Aufschlagen der Zeitung das nahende Superwahljahr – Und es verursacht schon jetzt einen Stellungskrieg der Zuschreibungen und des halbseidenen Aktionismus. In Zeiten von Wahlen wollen politische Akteure möglichst breite Wähler:innengruppen ansprechen und ja niemandem auf die Zehen steigen. Die Resultate daraus sind Schlupflöcher und Verwässerung. Man setzt um, was im Hier und Jetzt bequem ist und auf möglichst wenig Widerstand stößt.

Da ist beispielsweise das in seiner Grundidee so rechtschaffende aber leider stark abgeschwächte Lieferkettengesetz; das verworfene Vorhaben zur Eindämmung der Bodenversiegelung; das trotz fatalem Klimareport noch immer nicht erneuerte Klimaschutzgesetz – alles Vorhaben, die ursprünglich mit dem Wissen definiert wurden, dass sie notwendig sind und langfristig zu einer gesunden Umwelt UND Wirtschaft beitragen. Dabei spielt es gar keine Rolle, aus welchem politischen Lager die Vorhaben kommen – im Prinzip wissen wir alle, was langfristig gut für eine Gesellschaft ist. Dafür braucht es auch keine Moralapostel. Wofür es sie aber sehr wohl braucht ist, um aufzuschreien, wenn im Wahlkampf plötzlich in alle Richtungen Versprechungen gemacht werden, wenn verwässerte Gesetzesentwürfe gefeiert und Erfolge laut verkündet werden, populäre Forderungen, die in der eigenen Gefolgschaft unerwünscht sind, später aber leise unter den Teppich gekehrt werden.

Die Rolle des Moralapostels ist sicher nicht die mit den innovativsten Ideen oder dem größten Möglichmacher-Mindset. Aber sie ist in meinen Augen jene, die für Transparenz sorgt und den Mut aufbringt, sich dabei auch unbeliebt zu machen. Moralapostel sind also so etwas wie das Gewissen. Darum ist es unser Anspruch an unsere Arbeit bei der Grünen Wirtschaft und als Interessensvertretung, all das zu sein! Die Moralapostel UND die Gestalter. Die Kämpfer UND die Teamplayer. Die Progressiven UND die Beständigen.

Aber keine Sorge – Ich habe nun erstmal genug gepredigt 😉.
Falls es dich zum Ausgleich jetzt auch nach positiven Erzählweisen dürstet, kann ich dir unseren Artikel zum regenerativen Wirtschaften ans Herz legen. Bis zum nächsten Mal!

Sabine Jungwirth
Bundessprecherin der Grünen Wirtschaft

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