In Österreich sind derzeit rund 62.000 Menschen in der 24-Stunden-Betreuung von rund 30.000 Betreuungsbedürftigen tätig – davon 92 % Frauen und 8 % Männer. Sie werden von 978 Agenturen vermittelt und bezahlen zwischen 55 und 96 Euro Grundumlage pro Jahr an die jeweilige Fachgruppe im Bundesland, wo ihr Gewerbe gemeldet ist. Erst durch die Bereitschaft dieser Menschen unter schwierigen Bedingungen fern von ihren Familien um wenig Geld Betreuungsaufgaben in unseren Familien zu übernehmen, kann unser Pflegesystem derzeit aufrechterhalten werden.
Sie leisten einen wertvollen Beitrag für unsere Gesellschaft. Umso unerträglicher sind die prekären Rahmenbedingungen, unter denen 24-Stunden-Betreuerinnen oft arbeiten. Hier muss sich dringend etwas ändern! Wir haben daher eine Initiative gestartet.
Weitreichende Missstände im Feld der 24-Stunden-Betreuung
Selbstständigkeit gegeben?
Damit die 24-Stunden-Betreuung im Rahmen von Arbeitnehmer:innen-Rechten und finanziellen Mitteln überhaupt erst möglich wurde, wurden die Betreuer:innen systemisch zu selbstständigen Unternehmer:innen gemacht und sind damit Pflichtmitglieder der Wirtschaftskammer. De facto wird ein Großteil über Agenturen vermittelt, die häufig über sogenannte »Inkassovollmachten«[1] alle Aufgaben wie Gewerbean- und -abmeldung, Überweisen der Beiträge an die SVS, Verträge, Verhandlung der Werklöhne mit den Familien und dem Bestimmen über ihre Auszahlung an die Betreuer:innen übernehmen. Ob diese Praxis dem Grundsatz der Selbstständigkeit entspricht ist wohl höchst fraglich. Häufig ist das Gewerbe der einzelnen Betreuer:innen auch noch am Sitz der Vermittlungsagenturen gemeldet. Der häufig genannte Grund? Die nicht ausreichenden Deutsch- und Systemkenntnisse der Betreuer:innen.
Die Spitze des Eisbergs
Diese Umstände haben Agenturbetreiber:innen bei den Wirtschaftskammerwahlen 2020 ausgenutzt und in mehreren Bundesländern systematischen Wahlbetrug begangen: Für viele 24-Stunden-Betreuer:innen wurde einfach gewählt – und ihnen damit das Stimmrecht und die Möglichkeit genommen mitzuentscheiden, wie ihre Interessensvertretung aufgestellt ist. Im Burgenland kam es bereits im September 2021 zur Verurteilung eines Wirtschaftskammerfunktionärs des ÖVP-Wirtschaftsbundes, in Oberösterreich geht die Verhandlung noch weiter. Hier wurde das Verfahren sogar ausgeweitet: Zusätzlich zum Wahlbetrug geht es nun auch um den Verdacht der Urkundenfälschung. Anja Haider-Wallner, unsere Regionalsprecherin im Burgenland, hat die Wahlmanipulationen aufgedeckt. In diesem Video erzählt sie die ganze Geschichte und macht deren weitreichende Konsequenzen klar.
Hohe Provisionen für mangelhafte Vertretung
Die Betreuer:innen zahlen hohe Provisionen an Vermittlungsagenturen, damit sie beim Navigieren im österreichischen System und mit der Gewerbeverwaltung unterstützt werden. Die Agenturen führen diese Dienstleistung häufig nur mangelhaft aus, wie das Beispiel der nachträglichen Ruhendmeldung zeigt. Ein häufiges Problem beim Wechsel von einzelnen Betreuer:innen z. B. nach Deutschland ist, dass die Agenturen wider Vereinbarung die Abmeldung des Gewerbes unterlassen. Das führt dazu, dass Nachforderungen der SVS bis zum finanziellen Ruin drohen. Die Fristen für die nachträgliche Abmeldung sind widersprüchlich. Hier der Text von der WKO-Website (abgerufen am 30.5.2022):
»Eine über die Frist von 3 Wochen hinausgehende rückwirkende Ruhendmeldung ist aufgrund der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofs unzulässig.
Achtung:
Ein Verstoß gegen die 3-wöchige Frist kann mit einer Geldstrafe bis zu 1.090 EUR gem. § 368 GewO bestraft werden.
Eine rückwirkende Ruhendmeldung ist für die Sozialversicherung bis zu 18 Monate möglich (§ 4 Abs 1 Z 1 GSVG). Zum Zeitpunkt der Wirksamkeit der Ruhendmeldung darf eine die Pflichtversicherung begründende Tätigkeit nicht ausgeübt worden sein. Darüber hinaus darf der Versicherte in dieser Zeit keine Leistungen aus der Kranken- oder Pensionsversicherung in Anspruch genommen haben.«
Die gelebte Praxis variiert außerdem nach Bundesland. Während in Wien nachträgliche Ruhendmeldungen einfach durchgeführt werden, ist das im Burgenland nicht möglich. Es braucht Rechtssicherheit und Schutz. Immerhin bezahlen die 24-Stunden-Betreuer:innen Grundumlage an die WKO, damit ihre Interessen effizient vertreten und in solchen (Krisen-)Situationen unterstützt werden.
Keine echte Interessenvertretung
Die 24-Stunden-Betreuer:innen sind der Fachgruppe Personenberatung und -betreuung zugeordnet, ebenso die Agenturbetreiber:innen. Während zweitere sich als Mandatar:innen zur Wahl aufstellen lassen und dieses Mandat auch annehmen, sind die Betreuer:innen nicht in der Lage, ihre Interessen zu vertreten. Erstens, weil sie, wie der Name schon sagt, 24 Stunden am Tag in den Haushalten anwesend sind, zweitens, weil es das Turnussystem oft nicht ermöglicht Termine wahrzunehmen, und drittens, weil sprachliche Möglichkeiten und Mobilität eingeschränkt sind. Die Betreuer:innen wohnen und arbeiten oft in kleinen Ortschaften und können größere Städte nicht oder nur schwer erreichen.
Rein nach logischen Gesichtspunkten wird den Betreuer:innen, die sich in den meisten Fällen in einem Abhängigkeitsverhältnis mit den Agenturen befinden, die Vertretung der eigenen Interessen dadurch erschwert bis verunmöglicht. Ein Interessensausgleich kann nicht stattfinden, wenn eine betroffene Gruppe sich nicht beteiligen kann.
Unsere Initiative
Wir fordern die Wirtschaftskammer Österreich auf, folgende Vorschläge zu prüfen und im eigenen Wirkungsbereich sowie gemeinsam mit den zuständigen Ministerien Lösungen zu entwickeln, um die Rahmenbedingungen für 24-Stunden-Betreuer:innen zu verbessern:
- Rahmenbedingungen für Rechte und Pflichten in der 24-Stunden-Betreuung für Agenturen und Betreuer:innen vorgeben und deren Einhaltung an Förderungen knüpfen
- Aufteilung von Betreuer:innen und Agenturen in verschiedene Fachgruppen, um Interessensausgleich zu ermöglichen
- Erstsprachige Beratung bei SVS und WKO in allen Bundesländern
- Entwicklung eines mehrsprachigen digitalen Tools, das An- und Abmeldung sowie Beteiligung an Fachgruppen-Tagungen vereinfacht und intuitiv ermöglicht
- Eine Angleichung der Fristen für die Gewerbeabmeldung in GSVG und GewO erwirken, bzw. die gelebte Praxis in allen Bundesländern im Interesse der 24-Stunden-Betreuer:innen herbeiführen
[1] »Inkassovollmachten« enthalten in vielen Fällen Generalvollmachten und sind daher Mischvollmachten, die meist ein integrierter Teil der Organisationsverträge sind.