Wir haben die Wahl, wie wir uns in Zukunft unsere Körper gestalten. Den Auftakt zu unserer kleinen Serie über Lebensmittel machen ein paar grundsätzliche Gedanken zu unserem Essen.

TEIL 1 – GUT GENÄHRT ODER VOLLER BAUCH?

DIE PHILOSOPHIE UNSERES LEBENSMITTELKONSUMS

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Die Lebensmittelversorgung hat sich in den letzten fünfzig Jahren drastisch verändert. Mitte der 1970er-Jahre gab es z. B. in Hernals ganze zwei Supermärkte: den „Stöger & Wachet“ und einen Konsum. Heute gibt es einen INTERSPAR, einen BIG BILLA, mehrere Gourmet-SPAR, mehrere BILLA, dazu Hofer, Penny-Markt und noch einige mehr.

Dafür findest du zahlreiche alte Greißler ums Eck nicht mehr – wenngleich ein paar neue, wie etwa »Finks Gold« in der Hernalser Hauptstraße. Dass das Warenangebot in Summe enorm zugenommen hat, obwohl es nicht entsprechend mehr Menschen gibt, weist gut die Richtung der Entwicklung: Wir kaufen wesentlich mehr Lebensmittel und werfen den Überfluss weg. Damit das nicht sinnlos erscheint, gibt es das Mindesthaltbarkeitsdatum, das wir gerne mit einem Ablaufdatum verwechseln, und so setzt sich die Maschine in Bewegung.

Die Hauptfaktoren, die uns in diese Maschine einspannen, sind:

  • Bequemlichkeit (alles auf einem Fleck)
  • Preis (ein Sonderangebot jagt das nächste)
  • Gewohnheit (wir gehen dorthin, wo wir uns auskennen)
  • Marketing-Tricks (psychologisch äußerst raffiniert und hochfunktionell)
  • Zeitdruck (schnell beim Heimfahren noch was einkaufen)

Alle fünf zusammen betonieren unser Konsumverhalten ein. Dadurch haben Alternativen es extrem schwer, wie etwa kleine Bio-Läden, auch wenn ihr Angebot hochwertig ist und die Geschäftsleute sehr engagiert sind.

Es fehlt an alternativen Werten und Bedürfnissen. Wem egal ist, was die bunte Verpackung enthält, kann auch durch zehn Bio-Labels nicht angelockt werden. Wer sich nicht darum schert, wie und unter welchen Umständen Lebensmittel erzeugt werden, den rühren Kinderarbeitsschicksale auch keine Sekunde lang. Und wer Bequemlichkeitsmaximierung als sein wohlverdientes Recht ansieht, lässt liefern, anstatt selbst wohin zu gehen oder zu fahren.

Wir alle kennen Ausreden in großer Zahl, warum gerade wir zum Diskonter gehen müssen, mit dem Auto fahren müssen, uns liefern lassen müssen und immer unter Zeitdruck stehen. Wir alle glauben, hundert Familien zu kennen, die sich Bio niemals leisten können.

All das gibt nicht viel Hoffnung, dass sich in absehbarer Zeit an der Lebensmittelversorgungs-Großwetterlage etwas ändern wird. Und in einer Zeit stark steigender Preise sowieso nicht. Aber dieser Artikel wäre komplett überflüssig, wenn es nicht doch einen Hoffnungsschimmer gäbe, genauer gesagt sogar mehrere. Und die wollen wir uns einmal etwas genauer ansehen.

Was lässt uns generell hoffen?

Vielleicht haben die aktuellen Krisen (Corona, Ukraine) ja auch positive Aspekte, auch wenn uns die nicht gerade ins Aug stechen. Aber beide zeigen uns die Nachteile der Abhängigkeit von Lebensmitteln vom anderen Ende der Welt, von den Erdbeeren aus Chile und den Weintrauben aus Brasilien. Die Nachteile der Globalisierung werden sichtbar und wir beginnen zu zweifeln, ob die schöne, bunte Konsumwelt nach dem Motto „ich will alles und das zu jeder Zeit“ nicht einen hohen Preis verlangt, etwa unsere Gesundheit oder zumindest die unserer Kinder und Enkel. Nicht nur die massiv steigende Adipositas-Rate und die immer häufiger auftretenden Diabetes-Fälle schon bei Kindern, auch die zunehmenden Allergien und Unverträglichkeiten dürften auch ein wenig mit unserer Ernährung zu tun haben. Oder auch etwas mehr als nur ein wenig.

Der enorme Zuckergehalt im Bequemlichkeitsessen (gerne „Convenience-Food“ genannt, das klingt viel netter und die Supermarktregale mit diesem Zeug werden immer länger) ist nicht das einzige Problem. Die zahlreichen künstlichen Aromen und der immer ungesundere Mix der Nahrung wecken Zweifel an der Nachhaltigkeit des Glücksversprechens. Wenn ein Kilo Fleisch die Hälfte von einem Kilo Gemüse kostet und Leitungswasser in Plastikflaschen das Doppelte von Bier, dann erübrigt sich eigentlich jede weitere Analyse unserer Essens- und Einkaufgewohnheiten.

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Aber die Zweifel werden mehr und mit ihnen die Rufe nach Alternativen. Alte Erinnerungen tauchen wieder auf, an die köstlichen Semmeln, die der Bäcker in der Früh geliefert hat, mit so ganz anderem Geschmack und ganz anderer Konsistenz als die Schaumgummi-Laberln aus der computergesteuerten Aufbackstation.

Erinnerungen an dicke, dünne, krumme, gerade und sonst wie gewachsene Karotten, die wir selbst aus der Erde gezogen haben. An das Bier, das einen so viel interessanteren Geschmack hatte als das Einheitsprodukt aus der globalen Konzernbrauerei.

Es geht aber um mehr als nur Nostalgie, es geht um die Frage, wie wir unsere Versorgung in Zukunft ganz generell gestalten wollen und können. Auch wenn lokaler Anbau vielleicht teurer ist und wir uns dafür etwas anderes nicht kaufen können – wobei selbst das nicht einmal wirklich sicher ist.

Unsere Nahrung formt nicht nur unsere Körper, sie formt auch unsere Landschaften und unsere Gesellschaft, unsere Beziehungen, genau genommen irgendwie unser ganzes Leben. Wir sind, was wir essen. Und wenn wir Müll essen, ausschließlich aus Gründen der Sättigung und das nur für kurze Zeit, dann sind wir auch Müll, satt für kurze Zeit, aber auch lange nicht so glücklich wie es uns die Werbung verspricht.

Die gute Nachricht: Wir haben die Wahl.

Wir haben sie nicht nur durch die Macht unserer Konsumgeldbörse, sondern auch durch die Möglichkeit, die Art unserer Ernährung selbst zu wählen. Wir können weniger Fleisch essen, wenn wir wollen. Und wir können verlangen, dass der Zuckergehalt auf den Lebensmittelverpackungen angegeben wird, und zwar nach einem sinnvollen und leicht verständlichen System.

Wir können verlangen, dass Nahrungsmittel adäquat zum Transportweg besteuert werden, um Bauern in der Region eine Chance auf die Teilhabe am Markt zu ermöglichen. Wir können auch weniger essen, dafür besser. Und wir können damit glücklicher sein, als wir es jetzt sind, auch da haben wir die Wahl.

Die nächste gute Nachricht: Das ist alles schon erfunden.

Es gibt genügend Menschen, die wissen, wie´s geht und die das auch können. Wir müssen ihnen nur zuhören und uns begeistern lassen. Wir können Gemeinschaftsgärten fordern und Kooperationen mit neuen Genossenschaften eingehen. Wir können städtische Gebiete wieder mit Märkten versorgen, auf denen es echte Nahrung zu kaufen gibt. Wir können wieder kochen lernen. Wir können unsere Transportwege ökologischer befahren, moderne Lastenräder schaffen bis zu einer halben Tonne Zuladung, das ist gar nicht so wenig.

Wir können uns dafür entscheiden, wieder Beziehung zu unserer Nahrung aufzubauen, zu dem, was uns nährt. Vielleicht ist diese Beziehung sogar ähnlich wichtig wie die Beziehung zu unserer ersten Ernährerin in unserem Leben: unserer Mutter.

Es ist ja nicht nur die Beziehung zur Nahrung, sondern zu denen, die diese Nahrung erzeugen. Derzeit stehen die meisten Erzeuger:innen nur mit anonymen Großhandelsunternehmen in Beziehung, die sich für sie nur insofern interessieren, als sie den billigsten Preis wollen. Wer will da schon Bauer oder Bäuerin sein?

Wir reden hier vom Aufbau echter Verantwortung – des Bauern wie der Bäuerin für unser leibliches Wohl, und von uns für deren würdevoller Existenz. Das macht Beziehung aus und die Summe der Beziehungen lässt uns Teil eines tragenden Netzwerks sein, in dem die Menschen sich kennen, und nicht nur anonym durch werbungsbeschallte Regalreihen hetzen, auf der Suche nach noch mehr Zuckerlimonade zum noch günstigeren Preis.

©Scott_Warman_unsplashed

Tauschen wir den künstlichen Zucker-Aroma-Riegel in der dreifachen Plastikverpackung doch gegen das echte Lächeln der Bäuerin am Markt, wenn wir ihr das Gemüse abkaufen, das sie nicht wieder einackern muss, weil es um einen halben Grad zu krumm für den Industriegiganten ist. Wenn wir das nicht alibihalber einmal im Monat tun, dann wird uns das steigende Angebot auch die Bequemlichkeit des Supermarkts ersetzen können. Wir werden die Zeit, die wir investieren, nicht als verloren ansehen. Wir werden neue Gewohnheiten aufbauen und die alten guten Gewissens vergessen. Wir werden dann für etwas weniger Nahrung etwas mehr zahlen, aber wir werden nicht nur genauso satt werden, sondern dafür auch in den Genuss qualitativ hochwertiger Lebensmittel kommen.

Und auf die Marketingtricks der Giga-Märkte können wir auch verzichten, oder?