Und draußen vor der großen Stadt findet jetzt das Grätzl

Grätzl-Werk-Stadt NO. 24: Ein Grätzl-Glücksfalls

In sechs Minuten ist man vom Büro der Grünen Wirtschaft Wien in der Seidengasse mit dem Fahrrad im Nibelungenviertel, mitten im 15. Bezirk. Und dann befindet man sich mittendrin in einem Grätzl-Glücksfall. Vor zehn Jahren siedelte sich eine Unternehmerin, an, die Ihren Kund*innen keinen Wunsch abschlagen kann, manchmal dauert die Erfüllung halt acht Jahre.

 

Foto: Katarina Lindbichler

Ulla Harms schafft sich keinen Markt, sie reagiert darauf, was der Markt braucht. In ihrem Fall ist der Markt ein lebendiges Grätzl am Kriemhildplatz. Im Interview mit Sonja Franzke verrät sie, warum sie vor zehn Jahren in einem schlecht beleumundeten Bezirk eine Buchhandlung eröffnet hat und wie vor zwei Monaten auch noch ein Grätzl-Café dazukam.

 

 

 

Ulla, wie sähen deine Unternehmen das »Buchkontor« und das »franzundjulius« aus, wenn es das Grätzl nicht gebe?

Der Zugang ist umgekehrt. Beide Unternehmen gibt es nur wegen des Grätzls. Die Buchhandlung war nie als Buchhandlung geplant, ich habe nur ein Büro gesucht. Durch die Nachfrage der Nachbarschaft ist aus einem Vertriebsbüro eine Buchhandlung entstanden, die sich nur trägt, weil wir Stammkunden haben. Ich habe keine Laufkundschaft. Und durch das Zuhören habe ich mitbekommen: Meine Nachbar*innen wollen ein Kaffeehaus.

 

Das bedeutet, das Grätzl hat deine unternehmerische Kreativität entfacht. Hättest du 2009 ein Büro gefunden, gäbe es heute deine Buchhandlung und deine Restauration nicht?

Ich habe fast ein Jahr ein Büro gesucht – in ganz Wien. Ok, ich wollte nicht nach Simmering und nicht über die Donau. Ich habe keines gefunden, das zu mir und zu meinen Ansprüchen gepasst hat. Entweder lagen sie im Souterrain, waren zu klein oder das Badezimmer hat den größten Teil eingenommen, oder sie waren zu teuer oder zu renovierungsbedürftig …. Am Kriemhildplatz habe ich dann zwei Räume gefunden, die übertrieben groß waren für ein Büro für drei Frauen, aber sie waren leistbar. Sie waren zwar auch sanierungsbedürftig, aber das war summa summarum immer noch die beste Lösung.

 

Nach zehn Jahren als Grätzl-Buchhändlerin hast du den Wunsch deiner Nachbar*innen nach einem Treffpunkt nicht mehr ignorieren wollen?

Genau. Es fehlte das Café, der Treffpunkt, wo man gemütlich zsamsitzen, sich treffen kann, seine Gedanken schweifen lassen kann. Ich habe einfach genau das gemacht habe, was die Leut‘ aus der Umgebung sich wünschen: Sie wollen zu Mittag essen, sie wollen einen guten Kaffee, sie wollen einen Kuchen und sie wollen einfach eine Ruhe haben. Und ich mache sicher kein Buch- oder Lese-Café, weil ich will niemandem etwas aufs Aug‘ drücken. Es sind auch Leute willkommen, die nicht lesen oder sich für Bücher interessieren.

Foto: Wecallitwild

 

Wie definierst du Grätzl?

Ohne die Kirche vis á vis der Buchhandlung gäbe es das Grätzl nicht und das sage ich als ausgetretene Katholikin. Dort ist ein Kindergarten, das ist eine Keimzelle für Freundschaften von Kindern, aber auch Erwachsenen. Wir haben einen lässigen, liberalen, kreativen Pfarrer, der auch mit seinen Veranstaltungen verbindend wirkt.

Der Vorplatz der Kirche ist ein Verweilpunkt zum Tratschen oder auf den Bänken Sitzen, solche Begegnungszonen im öffentlichen Raum zu haben, ist extrem wichtig. Deshalb finde ich auf die Initiative der Grätzloase extrem wichtig, weil sie eine Oase bietet, um konsumfrei zu entspannen.

 

Wer kommt ins Kaffee, wer wohnt hier?

Jede Unternehmer*in definiert ihre Zielgruppe. Ich habe die protypische Kundschaft für die Buchhandlung einmal so festgelegt: Frau, Mitte 30, mit Matura oder Hochschulabschluss und 1 bis 2 Kinder und: keine Wienerin! Das war für mich eine sehr spannende Erkenntnis, da ich selbst Wienerin bin. Ich weiß, dass der 15. Bezirk bei den Wiener einen sehr schlechten Ruf hat, obwohl beispielsweise seit acht Jahren auf der Felberstraße keine Prostituierten mehr stehen. Das Nibelungenviertel (Anm: Quadrat zwischen Gablenzgasse –Hütteldorferstraße–Schmelz–Gürtel) in seiner architektonischen Pracht kennen also die wenigsten. Zug’raste aus den Bundesländern oder aus Deutschland haben diese Berührungsangst nicht, und das spiegelt sich nun auch im Café wider: viele Jungmütter, viele Menschen aus den umliegenden Büros, Student*innen. Und am Abend kommen die Kindergarten-Mütter, um ein Glas Wein mit ihrer Freundin in Gehnähe zu trinken.

In die Buchhandlung kommen teilweise auch Leute aus anderen Bezirken, das ist cool, dafür haben wir aber zehn Jahre Arbeit vorgelegt.

 

Warum ist das »franzundjulius« kein Pop-up-Kaffee?

Die Räume waren wirklich in sehr miserablen Zustand: Wir mussten kerchern, Strom einziehen, Wände verputzen, Türen in Stand setzen, Fenster richten, wir mussten soviel machen, damit man die Türe öffnen und eine Kaffeemaschine auf einen Tisch stellen kann. Diese Vorleistungen waren für zwei bis drei Monate Spaß zu viel. Mit diesem großartigen Hausherrn an meiner Seite habe ich das alles machen können, wenn ich nur eine anonyme Hausverwaltung als Ansprechpartnerin gehabt hätte, wäre vieles so nicht möglich gewesen.

Hattest du noch andere Partner*innen oder Unterstützer*innen?

Es war tatsächlich so, dass ich in der Aufbauphase öfter am Tag vor Rührung und Freude weinen musste. Leute aller Altersstufen – auch wildfremde – sind auf mich zugekommen, die super fanden, dass wir das machen und uns helfen wollten. Es gab Leute, die sagten: „Komm, ich bring dir die zehn Schuttsäcke zum Mistplatz!“, andere, die uns Geld geben wollten, manche haben uns eines geschenkt, andere haben uns etwas gegeben auf fünf Jahre und viele haben unsere Genussscheine gekauft. Sie haben also Kaffeehausangebote zum stark erhöhten Preis als eine Art des Crowdfinancing gekauft. Als Beispiel haben wir Frühstücke, die bei uns zwischen zehn und fünfzehn Euro zu bekommen sind, um 50 Euro verkauft.

Ein ganz besonderer Kunde, den ich um einen Elektrikertipp gebeten hatte, hat den Handwerker geschickt und bezahlt.

 

Gibt es etwas, was du dir als Grätzl-Gestalterin wünscht von deiner Stadt oder deinem Bezirk?

Was ich wirklich sehr besonders fand und worüber ich mich total gefreut habe, dass der Bezirk unser »10 Jahre Buchkontor«-Fest so großzügig gesponsert hat. Das ist etwas, was ich mir in anderen Bundesländern kaum vorstellen kann. Oder dass in Hamburg eine solche Grätzl-Idee gefördert wird. Wenn ich mir zusätzlich etwas wünschen könnte, wäre es ein Zeichen der Wertschätzung des Angebots im Bezirk. Es wäre extrem motivierend und wichtig, wenn jetzt zwei Monaten nach Eröffnung jemand von der offiziellen Bezirksvertretung mich als »Neu-Gründerin« willkommen heißt.

Aber natürlich nicht nur mich, sondern viele der örtlichen Kleinbetriebe. Dass der offizielle Bezirk auch die Menschen, die in die wirtschaftliche Belebung des Bezirks, ihres Grätzls, investieren, nach Möglichkeit wahrnimmt und ihre Angebote nutzt. Also, dass man vielleicht einmal einen Besprechungstermin bei uns macht, sein Mittagessen dort und da holt, Möglichkeiten gibt es genug und sie werden mehr, wenn man die Unternehmer*innen und als Partner*innen auch des sozialen Lebens versteht.

www.franzundjulius.at

Café und Restauration von Montag bis Samstag 9.00 bis 22.00 Uhr

www.buchkontor.at