Ein Beitrag aus unserer Blogreihe »Zukunftsfähig Wirtschaften«
Ein Vortrag des Sozialethikers Clemens Sedmak*
C: ifz
Die Coronapandemie stellt uns vor große gesellschaftliche Fragestellungen: Warum ist es heute so schwer, ein verbindliches Allgemeinwohl zu finden und zu akzeptieren? Ist die Gesundheit das höchste Gut, dem alles unterzuordnen ist? Wie gehen wir mit den tiefgehenden gesellschaftlichen Differenzen um? Und in welcher Gesellschaft werden wir nach der Coronakrise leben?
Die Coronapandemie führt zu einem Verlust von Unbeschwertheit und Sorglosigkeit.
Die Pandemie traf uns nicht unerwartet. Die Wissenschaft hatte schon längst vorhergesagt, dass unser Umgang mit der Natur zu einer Zunahme von zoonosen führen würde. Und wir hätten aus der Geschichte lernen können, aus der Spanischen Grippe 1918 sowie aus Ebola 2014, 2016. Bereits in diesen Pandemien zeigten sich die Phänomene wie fehlendes Vertrauen in staatliche Maßnahmen, Rassismus, Zunahme an Verschwörungstheorien, Wissenschaftsfeindlichkeit und gesellschaftlicher Ungleichheit. Auch einen gendergap gab es bereits: Frauen waren wenig bis gar nicht in den Entscheidungsprozessen präsent, aber umsomehr von den Entscheidungen betroffen. Im wesentlichen zeichnen sich Pandemien durch psychologische Phänomene aus wie mangelnde Medienkompetenz, Wissenschaftsskepsis, Narzissmen, übertriebene Sorgen und Ängste. In einer Pandemie zeigt sich die soziale Natur von Gesundheit.
Warum lernen wir zuwenig aus vergangenen Katastrophen für zukünftige Krisen? Sedmak verweist auf die Kurzsichtigkeit, den Gedächtnisverlust, den chronischen Optimismus, die Trägheit, die Simplifizierung, den Herdentrieb der Menschen. Wir sind nicht bereit, uns wesentlich umzustellen. Und darum werden wir auch, wenn die Umstände es erlauben, möglichst nahtlos an die Zeit vor der Pandemie anschließen, die gleichen Sünden wieder begehen … bis zum Beginn der nächsten Pandemie.
Die Coronapandemie führt zu Fragilität und Verwundbarkeit.
In der Pandemie wurden Strukturen des Selbstverständlichen zerstört. Unser neoliberales Wirtschaftssystem, das auf der Gesundheit der Menschen und der Sicherheit beruht, war gefährdet. Die Rolle des Staates musste neu definiert werden. Verwundbarkeit erzeugte Angst und Verunsicherung, die wiederum Entsolidarisierungsbeschleuniger sind. Angst hat viel mit Enge zu tun und Verengung kann zur Gewalt führen. Es kam zu einer Fragilität von Beziehungen und zur Fragilität von Diskursen. Autoritäten, die zur Entscheidungsgrundlage herangezogen wurden, wurden infragegestellt. Wer darf was nicht sagen? Was wird nicht gesagt? Was wird als politisch korrekt, was als inkorrekt abgestempelt? Wie gehen einzelne Institutionen mit kritischen Stimmen um? Wir nahmen die Fragilität der Gesundheitssysteme und die Fragilität unseres Alltags wahr. Und deutlich spürbar: die Fragilität der bürgerlichen Freiheiten.
Ist Gesundheit das höchste Gut?
Gesundheit ist ein verborgenes Gut: Mir fällt Gesundheit erst auf, wenn ich krank bin, erst da erkenne ich die Bedeutung von Gesundheit. Gesundheit ist auch ein Ermöglichungsgut: es ermöglicht den Zugang zu anderen Gütern. Es ermöglicht mir die Erreichung von Lebenszielen. Gesundheit ist aber auch ein persönliches, ein geheimnisvolles, ein überindividuelles, ein politisches und ein globales Gut. Aber, Gesundheit ist nicht das höchste Gut. Menschen leben nicht, um gesund zu sein, sondern um etwas anderes in ihrem Leben zu machen. Sedmak sieht heute mit Sorge eine Engführung des Gesundheitsbegriffes auf die körperliche Gesundheit, die die mentale und politische Gesundheit nicht berücksichtigt. Dagegen fasst die WHO den Begriff weiter: sie definiert »Gesundheit als einen Zustand des vollkommenen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen«. Was könnte ein politisches Umfeld sein, um diesen Gesundheitsbegriff umzusetzen?
Gemeinsinn, Geweinwohl und Freiheit in Zeiten der Coronapandemie
Der Begriff des Gemeinwohls ist nicht unproblemtisch. Er wird meist sorglos verwendet und dient oft dazu Freiheitsrechte einzuschränken. Sedmak verweist auf drei große Fragen, wenn man über Gemeinwohl reflektiert:
1. Wie gehen wir mit konkurrenzierenden Gemeinschaften innerhalb einer Gesellschaft um? Wie schafft man Diskursräume zur Einbeziehung dieser Differenzen?
2. Wie verhalten sich verschiedene Gemeinwohle zueinander? Das Gemeinwohl Österreichs kann sich vom Gemeinwohl der europäischen Union unterscheiden und in Konkurrenz treten. Die Versöhnung verschiedener hierarchischer Gesellschaftsstrukturen durch die Idee des Gemeinwohls ist daher eher problematisch.
3. Gemeinwohl wird oft mißbräuchlich verwendet, um Einschränkung der bürgerlichen Freiheitsrechten und Menschenrechten zu rechtfertigen, vgl. dazu die Einschränkungen nach 9/11.
Bei staatlichen Eingriffen muss es daher immer um ein Austarieren und die Verhältnismäßigkeit von Freiheit und Verantwortung gehen, auch im Hinblick auf ein solidarisch finanziertes Gesundheitssystem.
Wir beobachten gerade eine Etikettisierung und Schubladisierung von Gruppen und sehen eine Einseitigkeit des Diskurses. Es gibt keinen öffentlichen Diskurs über die Risiken bestimmter politischer Entscheidungen und die Kosten politischer Entscheidungen. Sedmak sieht die Gefahr von Infantilisierung und Demütigung in den unterschiedlichen Diskursen, das wären Nährböden für Radikalisierung. Dagegen ist Freiheit ein derart hohes Gut, dass sehr schnell die Verhältnismäßigkeit von Maßnahmen aufgezeigt werden muss. Hier ist die Beweislast ganz klar auf Seiten der Entscheidungsträger. Hier müssen kritische Diskurse möglich sein. Durch die Pandemiemaßnahmen und das social Distancing wurde viel Misstrauen erfahren. Das Vertrauen in politische Instanzen muss wieder hergestellt werden. Vertrauen und Respekt sind wichtige Güter für das gedeihliche Zusammenleben.
Das Leben nach der Coronapandemie
Sedmak ist wenig zuversichtlich, dass die Menschheit aus der Pandemie lernen würde. Sollten es die Umstände aber nicht erlauben, dass wir wieder an Vorcoronazeiten anschließen können, stellt er die Idee eines Posttraumatischen Wachstums in den Raum. Er verweist abschließend auf die Traumaforscher Richard G. Tedeschi und Lawrence G. Calhoun und die positiven Aspekte von Traumafolgen:
- Intensivierung der Wertschätzung des Lebens: Der durch das traumatische Erlebnis ausgelöste Reifungsprozess führt zu einer Veränderung der Prioritäten. Die Bedeutung der kleinen, alltäglichen Dinge nimmt zu. Materielle Dinge verlieren an Wert, persönliche Beziehungen gewinnen an Wert.
- Intensivierung der persönlichen Beziehungen: Das traumatische Ereignis hat einen Teil der alten Beziehungen zerstört. Die überlebenden Beziehungen (»in der Not erkennt man die wahren Freunde«) werden intensiviert. Gleichzeitig nimmt die Fähigkeit zur Empathie zu. Traumabetroffene Personen empfinden ein erhöhtes Mitgefühl mit anderen, vor allem mit notleidenden Menschen.
- Bewusstwerdung der eigenen Stärken: Gerade durch das Bewusstwerden der eigenen Verletzlichkeit wächst auch das Gefühl der inneren Stärke. Man weiß nun, dass zwar die Sicherheit im Leben jederzeit angreifbar ist, aber auch, dass man die Folgen schlimmer Ereignisse meistern kann.
- Entdeckung von neuen Möglichkeiten im Leben: Nachdem alte Ziele zerbrochen bzw. entwertet wurden, sucht man nun nach neuen Zielen und Aufgaben. Dies kann mit einem Berufswechsel oder mit intensivem sozialen Engagement verbunden sein.
- Intensivierung des spirituellen Bewusstseins: Das durch das traumatische Ereignis herbeigeführte Grenzerlebnis wirft existenzielle Fragen auf. Die daraus resultierenden Reflexionen über den Lebenssinn können zu einer größeren spirituellen Erkenntnis und zu größerer inneren Zufriedenheit führen.
Helene Zand, im Jänner 2022
*Prof. Clemens Sedmak lehrt Sozialethik an der University of Notre Dame (Indiana/USA). Von 2008 bis 2017 war er Präsident des Internationales Forschungszentrum für soziale und ethische Fragen ifz, danach Leiter des wissenschaftlichen Beirats, seit Herbst 2021 Vizepräsident. Seine Arbeitsgebiete reichen von Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie, Religionsphilosophie und Religionswissenschaft, sowie Erkenntnistheorie, Armutsforschung und Sozialethik.
Links:
Impulsvortrag von Clemens Sedmak für die Grüne Wirtschaft am 26. Jänner 2022: Wie verändert die Corona-Krise unsere Vorstellung von individueller Freiheit, sozialer Verantwortung und gesellschaftlichem Zusammenhalt? https://www.youtube.com/watch?v=gD038K02KtU
Steven Taylor, The Psychology of Pandemics: https://www.goodreads.com/book/show/48722093-the-psychology-of-pandemics
Laura Spinney: 1918 – Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte: https://g.co/kgs/9yVjSt
Robert Meyer and Howard Kunreuther, The Ostrich Paradox – Why We Underprepare for Disasters: https://wsp.wharton.upenn.edu/book/ostrich-paradox/
Richard G. Tedeschi und Lawrence G. Calhoun, Posttraumatisches Wachstum: https://de.wikipedia.org/wiki/Posttraumatisches_Wachstum