DER MÖRDER DES GRÄTZLS ODER WIE GEHT WIEDERBELEBUNG

Grätzl-Werk-Stadt NO. 39: Über die Ursache von Leerstand und seine Gegenmaßnahmen

 

Freudig erregt sind über die Betitelung Leerstand nur Immobilienspekulant:innen, die sich gerne langjähriger Mieter und Mieterinnen entledigt wissen. In allen anderen Fällen bedeutet es für den Hausbesitzer bzw. die Hausbesitzerin fehlende Mieteinnahmen und für Passant:innen ein weiteres Stück Tristesse, vielleicht auch noch ein wenig Wehmut, wenn sie sich erinnern, was da einmal war.

Am schönsten ist eine Straße bzw. ein Platz, wenn alle Gassenlokale vermietet sind, denn das wirkt sich vielfältig aus: Die Eigentümer:innen können durch die Mieteinnahmen das Haus in Schuss halten, eine belebte Straße wirkt einladend, erhöht die Sicherheit oder zumindest das Sicherheitsgefühl – außer es gibt Lokale mit unerwünschtem Publikum. Genutzte Ladenlokale bringen generell Prosperität in ein Viertel, ein Grätzl, eine Straße oder sogar einen ganzen Bezirk.

In der Realität sieht es leider anders aus, wobei eine gewisse Anzahl an Leerständen durchaus als normal betrachtet werden kann, da es immer Fluktuation gibt. In einem funktionierenden System sind die Leerstände aber nur von relativ kurzer Dauer.

Dass das System nicht mehr funktioniert, lässt sich erkennen, wenn wir uns die Gründe für die Leerstände ansehen – hier in taxativer Aufzählung, also ohne Reihung:

 

Zu hohe Mieten

Das kann eine Gentrifizierung eines Grätzls als Ursache haben oder generell hohe Mietpreise in einer Stadt oder einem Bezirk. Das führt dazu, dass sich nur mehr sehr umsatzstarke Branchen die Flächen leisten können und sich die Struktur der Straße ändert. Ihr folgt auf dem Fuße der Charakter, der sich im schlimmsten Fall soweit ändert, dass kurz vor dem Ende noch 1-Euro-Shops, Textildiscounter und Fast-Food-Buden vorhanden sind.

Die Lösungen für dieses Problem gestalten sich generell schwierig, weil der einzig funktionierende Weg eine Mietpreisbegrenzung wäre, was wiederum von Freund:innen des freien Marktes als direkte Fahrt in die Rentabilitätshölle empfunden wird, steigerbar nur mehr durch den allseits gehassten Kommunismus.

 

Kein Vermietungsinteresse

Wir haben keine Zahlen darüber, wie viele Eigentümer:innen ihre Objekte willentlich nicht vermieten. Die Gründe kennen wir aber: Manche wägen die Mieteinnahmen gegen das Risiko ab, sich einen Mieter oder eine Mieterin einzufangen, den oder die man nicht mag, in Folge aber nicht mehr los wird. Besonders unbeliebt sind hier Gastronomiebetriebe, denn sie sind manchmal laut, sondern Gerüche ab und ziehen Menschen an, die man vielleicht nicht im Grätzl haben will.

Wenn der oder die Eigentümer:in es sich leisten kann, tun sie sich das einfach nicht an und lassen das Lokal lieber leer stehen.

Ein weiterer Grund ist eine bevorstehende Renovierung oder ein geplanter Verkauf des Hauses. Wie schon eingangs beschrieben, ist ein leeres Haus wertvoller als eines, in dem die Wohnungen oder Lokale langfristig vermietet sind. Verschärfend kann noch ein U-Bahn-Bau dazu kommen oder ein anderes Ereignis, das die Gegend verändert.

 

Konjunkturkrise

Man muss kein:e Prophet:in sein, um vorauszusagen, dass es in Folge einer Konjunkturkrise zu einer gewissen Anzahl an Betriebsschließungen kommt und dadurch vermehrt Leerstände entstehen. In so einem Fall beginnt eine fatale Entwicklung. Neben einem Leerstand entsteht ein zweiter, vielleicht sogar ein dritter und schon wird der Straßenabschnitt hässlicher, man geht nicht mehr gerne vorbei und in Folge lassen sich die Lokale in der Nähe auch nicht mehr gut vermieten. Je nach politischen Rahmenbedingungen gibt es hier noch verstärkende Faktoren, wie etwa den Umbau von Erdgeschossen in Garagen. Die Folge Leerstand-Garage-Garage-Leerstand-Leerstand (oder so ähnlich) tötet alles, was sich dahinter noch befindet.

 

Shopping-Center

Die Großstadt ist davon weniger betroffen, besonders hart ist es für kleine und mittlere Städte, die einen alten – und eigentlich gut funktionierenden – Ortskern haben. Nicht erst seit Ulli Gladiks Film „Global Shopping Village“ ist klar, wie Investor:innen, Baufirmen und/oder Politiker:innen ganze Ortschaften und halbe Regionen zerstören können – die Beispiele aus dem Weinviertel und der Steiermark lassen daran keinen Zweifel mehr offen: Die versprochenen Arbeitsplätze gibt es nur kurzfristig und nur in der Größenordnung von 50 Prozent derer, die verlorengehen. Gewinner*innen sind Immobilienentwickler und Baufirmen, Verliererinnen sind die Kommunen.

Das größte Problem ist die relative Unumkehrbarkeit. Ein kaputter Ortskern kann nur mit drastischen Maßnahmen wie Förderprogrammen, gesetzlichen Regelungen und ähnlichem wieder reaktiviert werden, es ist in jedem Fall teuer und dauert lange.

Ein weiteres Problem ist der Gewöhnungseffekt der Konsument:innen. Wer die Bequemlichkeit eines großen Shoppingcenters als Standard empfindet, lässt sich nur schwer wieder umgewöhnen. Wenn sogar in Lockdown-Zeiten ein Bummel durch Shoppingcenter als Freizeitvergnügen gelebt wird.

Diesen Effekt haben wir auch beim nächsten Faktor.

 

Online-Shopping

In Zeiten behördlich eingeschränkter Ladenöffnungszeiten wird dezidiert als Lösung empfohlen, dass sich Einzelhändler*innen mit bisher nur stationärem Verkauf zusätzlich einen Online-Shop aufbauen, um sich gegen die internationale Online-Konkurrenz zu stemmen. Das scheitert oft an der fehlenden Professionalität oder an den Kosten, da man mit den Gigant:innen preislich schwer bis gar nicht mithalten kann. Online-Handel wird darüberhinaus auch erst ab einer gewissen Größe kostendeckend betrieben. Zudem fehlen das Zusatzservice persönliche Beratung und Bedienung oder sind nur schwer substituierbar.

Es ist noch nicht klar, wie hart die Corona-Krise die unterschiedlichen Branchen langfristig treffen wird, aber rosige Zeiten erwarten die wenigsten Unternehmer*innen.

 

Die Lösungsansätze zur Eindämmung des Leerstands

Sie sind höchst unterschiedlich punkto Art und Kraft.

1.) Alternative Nutzungen

Derzeit sind Pop-up-Stores gerade hip (für die älteren Leser*innen: in Mode), also Kurzzeitnutzungen, die oft recht aufwändig sind und sich meist für die Vermieter*innen nicht rentieren, oftmals für die Betreiber*innen auch nicht.

Eine andere Variante besteht in der Vermietung an neu entstehende Branchen, aber auch die tauchen oft so schnell wieder unter, wie sie aufgetaucht sind – wenn die Smoothies aus der Mode kommen, verschwinden auch die Smoothie-Stores.

Noch eine andere Möglichkeit besteht in der Vermietung an Nutzer:innen, die bisher nicht in Gassenlokalen zu finden waren: Arztpraxen, Rechtsanwaltskanzleien, Studios persönlicher Dienstleister:innen, Kunstateliers etc.

Das funktioniert teilweise ganz gut, schafft in einer Straße aber auch einen eigenen Charakter, der mit einer klassischen Einkaufsstraße nicht vergleichbar ist.

 

2.) Marktstrukturierung

Konkret sind dies Regelungen, etwa über steuerliche Anreize oder Preisbegrenzungen. Es gibt auch den Versuch, eine Art Management für Einkaufsstraßen zu etablieren, das scheitert aber immer daran, dass sich Vermieter:innen nicht vorschreiben lassen, an wen sie ihr Lokal vermieten. Im Gegensatz zum Shopping-Center, wo das Management alleine bestimmen kann, wen sie in einen Leerstand hineinnehmen, wen nicht und zu welchen Konditionen, funktioniert das im öffentlichen Raum nicht.

Auch Flächenwidmungen sind nur sehr stumpfe Werkzeuge, die sich bisher als nicht wirklich brauchbar erwiesen haben.

 

3.) Ein neues Wirtschaftssystem

Hier begeben wir uns in den Bereich der Utopie. Kleinstrukturierte Grätzl mit hoher Diversität und einem sehr belebten Zentrum, das sich durch eine gewisse, sehr differenzierte Nachfrage quasi den gut funktionierenden Branchenmix selbst schafft. Das setzt sehr mündige Konsument:innen voraus, die nicht auf Geiz-ist-geil angewiesen und auch bereit sind, sich die Strukturen etwas kosten zu lassen, wissend oder ahnend, dass die Steigerung der Lebensqualität die höheren Preise wieder aufwiegt. Wir können uns das ähnlich vorstellen wie der Mehrwert beim Verzicht auf ungesunde Lebensmittel, bei dem Gesundheit den kurzfristigen Lustgewinn mehr als wettmachen kann.

Ein gutes Leben im Grätzl bringt eine Form der Zufriedenheit, bei der Frustshopping oder Lustshopping nicht mehr als Bedürfnis vorhanden sind. Das so gesparte Geld lässt einen dann locker die etwas höheren Preise für qualitativ hochwertige, nachhaltige und vor Ort erzeugte Produkte bezahlen.

Die Klimakrise mit ihren Auswirkungen könnte hier neue Bewegung in ein bisher sehr eingefahrenes und auch eindimensionales System bringen, etwa indem es unattraktiv wird, mit dem Auto viele Kilometer zu fahren und vier leere Plätze durch die Landschaft spazieren zu führen, um einen kleinen Einkauf zu machen.

Dann bekommt Regionalität in Einkauf, Produktion, Reparatur und Wiederverwertung eine neue Chance und da all diese Faktoren Raum brauchen, werden die Erdgeschosse neue/alte Nutzungen erfahren können.

 

Geschrieben von Guido Schwarz