Ein Betonriese erblüht
Grätzl-Werk-Stadt NO. 34: So gelingt Zwischennutzung: die Garage Grande
Von Natascha Ickert
Ein Betonklotz. Ein hässlicher noch dazu. Mitten im 16. Bezirk. Ein Schandfleck, ein Relikt vergangener Zeit, ein Symbol der autogerechten Stadt. Platz dem Auto, alles andere muss sich unterordnen. Ich stehe vor dem Eingang einer vierstöckigen Parkgarage, der Garage Grande. Wer mag schon Parkgaragen? Es sind Räume der Angst, der Dunkelheit. Sie sind zum Abstellen und Weggehen designed, nicht zum Verweilen oder gar um eine gute Zeit dort zu haben. Es sind die Rumpelzimmer der Stadt, nur aufgeräumter.
Meine Augen wandern nach oben, die graue, raue Betonwand entlang. Jedes Parkdeck ist offen. Die Konstruktion erinnert an ein Betonskelett. Einen offenen Brustkorb. Ein abstoßendes Gefühl macht sich in mir breit. Ich möchte weg. Aber ich bin hier, um hineinzugehen in das Ungeheuer. Ich gebe mir einen Ruck und mache drei Schritte nach vorne. Sofort ist es ein Grad kälter. Es ist still. Nur der Wind pfeift durch das Gebäude und schiebt raschelnde Blätter über den Boden.
Plötzlich bebt der Boden und die Stille wird jäh durchbrochen von wild, fröhlichem Geschrei und Getrampel. Mit hoher Geschwindigkeit biegt eine Horde quietschfideler Kinder um die Ecke und rennt mir wie eine angriffslustige Horde Hunnen entgegen. Ich springe zur Seite und sie preschen weiter die Rampe nach oben in das nächste Stockwerk.
Kinder hätte ich als Letztes in so einer Umgebung erwartet. Neugierig folge ich ihnen.
Mit jedem Schritt nach oben wird es heller, bunter und lauter. Der Gang ist gesäumt von Graffitis und Bildern. Die Wände sind ein Streetart-Paradies, denen schon einige namhafte Künstler*innen Leben und Farbe eingehaucht haben.
Im ersten Stock angekommen blendet mich das Licht. Strahlender Sonnenschein erhellt die Kulisse. Das Grau macht dem Grün Platz. Blumen und Pflanzen gedeihen in hunderten von Kübeln. Die kalte Wand wird überwuchert von Hopfen, der darauf wartet, in eines der besten Getränke der Welt verwandelt zu werden. Der Boden ist pink. Bienen, die von der Wärme aus ihren Kästen gelockt werden, summen um mich herum. Die Kids sind gerade in der Nachmittagsbetreuung. Sie toben, malen, spielen. Manche genießen auch einfach nur den Ausblick – gemütlich, in der Hollywoodschaukel.
Das Gebäude zieht mich nun magisch an und weiter in sich hinein. Ich erklimme einen weiteren Stock. Schwitzende Menschen stehen an Werkbänken. Sie erzählen mir, sie sind aus der Nachbarschaft. Ihre Wohnung ist klein und nicht unbedingt geeignet für Do-it-yourself Projekte. Deshalb nutzen sie diese Räumlichkeiten. Sie helfen auch gerne anderen. Fahrräder werden repariert und gemeinsam kreative Ideen in die Tat umgesetzt. Holzspäne zeugen von ihren Erfolgen. Auf der anderen Seite des Decks liegen blaue Sportmatten. Hier trainiert mehrmals die Woche eine Aikido Gruppe.
Ich verlasse das Weiche unter meinen Füßen und stapfe hinauf zum nächsten Deck. Ich bin im Art-Space angekommen. Wie überall im Gebäude zieren Streetart-Werke die Wände. In der Ecke steht ein Container mit Gemälden und Kunstinstallationen. Gestapelte Kisten erinnern an die Zeit vor Corona, als sie als Sitzgelegenheiten zu Vorführungen und Veranstaltungen gedient haben.
Ich klettere in den letzten Stock. Hier wird es wieder ruhiger. Ich trete an das Geländer, sehe hinüber auf die umliegenden wunderschönen Altbauten und nehme einen tiefen Atemzug. Die Luft ist frisch, es riecht nach Natur und Wasser. Mein anfängliches Unbehagen ist verfolgen und einem Gefühl aufgeregter Inspiration gewichen. Ich höre Schritte und drehe mich um.
Mir entgegen kommen die guten Seelen der »Garage Grande«. Barbara Mayer und Pavlina Japelj sind Mitarbeiterinnen der Gebietsbetreuung Stadterneuerung im 16., 17., 18. und 19. Bezirk und betreuen mit ihren Kolleg*innen die Garage Grande. Barbara beschreibt ihre Rolle als Mittlerin und Schlichterin.
Die Garage ist ein Projekt, das Nachbar*innen, Vereine, Organisationen und Universitäten vereint (z. B. Jugend am Werk, Highbrow Institute, Caritas reStart, Universität für Bodenkultur, Soon Art Studio und viele mehr). Alle kümmern sich um das Gebäude. Die Synergien, die zwischen den Leuten entstehen, findet sie besonders spannend.
Die Initialzündung für das Projekt »Garage Grande« gab der gewiefte Immobilienentwickler und Bauherr Jörg Ulreich. Er erkannte das Potenzial der Lage. Aus diesem Grundstück, auf dem die vierstöckige Parkgarage steht, lässt sich Kapital schlagen. Er kauft es.
Ab dem Zeitpunkt des Erwerbs des Grundstücks bis zum Beginn der Bauphase vergehen aufgrund planerischer und bürokratischer Gründe bis zu drei Jahren. Da stellt sich die Frage: Was tun mit dem Gebäude in dieser Zeit? Jörg Ulreich nutzt diese Zeit und lässt Zwischennutzungen in diese Gebäude einziehen.
Doch warum sind Zwischennutzungen bei Bauträger*innen eigentlich so unbeliebt? Einer der Hauptgründe ist der Vertrag, der mit den Zwischennutzer*innen eingegangen wird. Er muss unbefristet vergeben werden. Das schreckt viele Immobilienentwickler*innen ab, da sie befürchten, dass die Zwischennutzer*innen einer Vertragsauflösung nicht zeitgerecht zustimmen.
Die Lösung fand Herr Ulreich darin, eine Organisation dazwischen zu schalten, die den Auszug zum Start der Bauphase garantiert. „Es lohnt sich diese Zwischen-Institution gut zu kennen und ihr vertrauen zu können“, so Karin Klaric, die PR-Verantwortliche der Firma Ulreich. Im Falle der Garage Grande hat diese Aufgabe die GB* übernommen.
Herr Ulreich ist kein Freund der Tristesse und – er ist wagemutig. Seine Vision sind grüne, atmende Häuser. Fassaden, Innenhof, Gehsteige und Balkone: Es soll aussehen, als hätte die Natur das Haus übernommen und würde sich nun von dort weiter in die Stadt ausbreiten.
Die Idee der grünen Oase wurde längst von der Realität übertroffen. Die Parkgarage hat sich in eine urbane Utopie verwandelt. Nicht nur die Natur bekam Platz, sondern vor allem auch die Menschen. Kinder haben hier ihren Freiraum entdeckt, Menschen jeden Alters lassen ihrer Kreativität freien Lauf. Es wurde ein Ort, an dem Unerwartetes erlaubt und real wurde. Es führt vor Augen, dass man Menschen nur Platz geben muss. Alles andere passiert von allein, bestätigt mir Barbara Mayer. Aus grau wird bunt, aus einem Un-Ort wurde ein Lebensraum. Wien braucht mehr Räume wie diesen!